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Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Wohnungsgesellschaft Münsterland, eine alteingesessene Münsteranerin, wird heute auf den Tag genau 75 Jahre alt. Aus Anlaß dieses Jubliäums möchte ich Sie nicht mit einer Nacherzählung von Fakten und Details aus der Unternehmensgeschichte langweilen. Diese können Sie - bei Gelegenheit - in der Ihnen zur Verfügung stehenden Dokumentation nachlesen.

Die folgenden Ausführungen stehen vielmehr unter dem Leitmotiv des Wandels der Familienformen im Zusammenhang mit der Geschichte des Sozialen Wohnungsbaues.
Bei meinen Nachforschungen zur Biographie des heutigen Geburtstagskindes fiel mir nämlich auf, daß außergewöhnlich viele der in der Wohnungswirtschaft Beschäftigten miteinander verwandt oder verschwägert sind. Ein weiterer Berührungspunkt zu dem Leitmotiv des Familienwandels ist schließlich, daß jeder von uns ein leibliches Elternpaar hat: Mutter und Vater.

Auch die Wohnungsgesellschaft Münsterland hatte, als sie heute vor 75 Jahren, am 20. Februar 1922, in Form eines Gesellschaftsvertrages das Licht der Welt erblickte, Mutter und Vater. Als Mutter mit deutlichen Mehrheitsverhältnissen im Rahmen des Stammkapitals fungierte die Westfälische Heimstätte. Die Mutter war noch recht jung: Erst 1918 war sie als eine der ersten Institutionen staatlicher Wohnungspolitik ins Leben gerufen worden. Ihre Gründung - noch während des 1. Weltkrieges - ging wesentlich auf den Einfluß von sogenannten Wohnreformern zurück. Von Beginn an stand sie unter einem direkten politischen Auftrag: Angesichts katastrophaler Wohnverhältnisse weiter Bevölkerungskreise befürchtete man vor allem in bürgerlichen Kreisen, denen die meisten Wohnreformer zuzurechnen sind, eine Revolution. Eine gewisse Panik machte sich breit, daß die "Roten", also Sozialdemokraten und Kommunisten, zuviel Einfluß gewinnen könnten. Hier müsse der Staat die Initiative ergreifen, dieses zu verhindern. Im Krieg, als viele nicht über ein Zuhause verfügten, bot sich hier das Gut Wohnen mit seiner Assoziation an Heimat und familiale Geborgenheit als politischer Befriedungsbereich geradezu ideal an.

Der Auftrag der Westfälischen Heimstätte, also der Mutter der Wohnungsgesellschaft Münsterland, lautete demzufolge, mehr "gesunden Wohnraum" für sogenannte "minderbemittelten Familien und Personen" zu schaffen. Im eigenen Namen durfte sie allerdings nicht bauen, vielmehr mußte sie sich auf die Betreuung anderer beschränken.

Führende Persönlichkeiten der Westfälischen Heimstätte vertraten jedoch die Ansicht, daß der so mögliche Handlungsspielraum nicht ausreiche, um staatliche Wohnungspolitik effizient umzusetzen. Vor allem auf ihr Engagement geht die Gründung der drei regionalen Tochtergesellschaften der Westfälischen Heimstätte zurück. Bereits im Jahre 1921 waren die Schwestern der Wohnungsgesellschaft Münsterland, die "Ruhr-Siedlungsgesellschaft Dortmund" und die "Ravensberger Siedlungsgesellschaft", aus der Taufe gehoben worden. 1922 folgte nun die münstersche Gründung, deren Jubiläum wir heute feiern.

Neben der Westfälischen Heimstätte als Mutter hatten die drei Schwestern natürlich auch Väter. Diese waren jeweils andere, und sie waren nur mit einem kleinen Prozentsatz am Stammkapital der Töchter beteiligt. Offensichtlich handelte es sich bei ihnen nur um eine flüchtige Liaison der Westfälischen Heimstätte. So schied hier vor Ort der zweite Gründungsgesellschafter, der gemeinnützige Bauverein der Landesbeamten, schon 1925 wieder aus der "Münsterland" aus und bis 1942 blieb die Westfälische Heimstätte alleinige Gesellschafterin - eine Art alleinerziehende Mutter.
Wer glaubt, die Westfälische Heimstätte hätte die Geburt ihrer Tochter, am 20. Februar 1922, feierlich bekannt gegeben, täuscht sich. Eher entsteht der Eindruck, das Kind sei nicht ganz legitim und sollte dem Blick einer kritischen Öffentlichkeit nicht ausgesetzt werden. Viele örtliche Bauvereine und -genossenschaften legten Wert darauf, daß das gegebene Versprechen, nach dem die Westfälische Heimstätte nicht in Konkurrenz zu ihnen treten werde, auch eingehalten wurde. Da die regionalen Tochtergesellschaften - im Gegensatz zur Mutter - aber in eigenem Namen bauen durften - hatte der Staat dieses Versprechen faktisch gebrochen.

Der Taufname unter dem die Wohnungsgesellschaft Münsterland im März 1922 ins Handelsregister eingetragen wurde, hatte auch programmatischen Charakter. Er lautete: "Münstersche Eigenheim-Baugesellschaft mbH". Gesellschaftszweck sollte also der Bau von Eigenheimen - von "gesunden Wohnungen für minderbemittelte Familien und Personen" - im Stadtgebiet Münsters sein. "Eigenheime" für "minderbemittelte Familien" klingt schon ein wenig befremdend oder mindestens widersprüchlich, es sei denn, es wäre revolutionär gemeint. Ich kann Sie beruhigen, das war es nicht. Vielmehr verdeutlicht dieser ursprüngliche Name, daß die Wohnungsgesellschaft Münsterland - wie weite Bereiche des Sozialen Wohnungsbaus überhaupt - von Beginn an deutlich mittelschichtsorientiert handelte.

Für welche Familien sollte also gebaut werden? Für die Ärmsten der Armen offenbar nicht. Zur Beantwortung der Frage, für wen gebaut wurde, muß ich Sie zunächst auf einen kurzen Ausflug in die Geschichte der Familie entführen.

Innerhalb weniger Jahrzehnte hatten sich mit der Industrialisierung die traditionellen Familienstrukturen und Lebensgewohnheiten der Menschen grundsätzlich gewandelt. Die Bereiche Wohnen und Wirtschaften waren durch die Zunahme außerhäuslicher Erwerbsarbeit in Fabriken und anderen Einrichtungen mehr und mehr getrennt. Mit dem Aufstieg des Bürgertums gewann das Leitbild der bürgerlichen Familie mit ihren Werten und Normen an Bedeutung. Zu diesem Leitbild gehört eine ganz neue Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern: Männer sollten durch ihre außerhäusliche Erwerbsarbeit den Lebensunterhalt ihrer Familie sichern; Frauen hingegen sollten sich im Idealfall ausschließlich der Haushaltsführung und der Kindererziehung widmen; als Arbeit galt ihre Tätigkeit nicht. Folgerichtig war es da, daß die Küche vom übrigen Wohnbereich möglichst getrennt sein sollte.
Diese Norm der bürgerlichen Familie konnte und sollte sich jedoch nicht in allen Schichten gleichzeitig umsetzen. Arbeiterhaushalte - das sogenannte Proletariat - und Familien 'kleiner' Angestellter konnten schon aufgrund kläglicher Löhne nicht auf zusätzliche Einnahmen verzichten. Oft trugen Frauen dieser Schichten und lange noch die Kindern in Form von Heimarbeit zum Familieneinkommen bei. Meist erledigten sie diese im zentralen Wohnbereich, in der Küche. Die Küche war oft der einzige beheizte Raum einer Familie und diente einigen Familienmitgliedern häufig zusätzlich als Schlafraum. In diesen Haushalten konnte also die Trennung zwischen Wohnen und Wirtschaften nicht so rigoros umgesetzt werden.
Eine Folge dieses umfassenden Wandels ist in der Konzentration vieler Menschen auf wenig Raum zu sehen. Für die neuen Stadtbewohner galt es, Wohnraum zu schaffen und neue Wohn- und Lebenskonzepte zu entwerfen.
Im Rahmen des Sozialen Wohnungsbaus wurden bei der Ausgestaltung dieser Konzepte von Staats wegen Männer aktiv, die überwiegend aus dem aufstrebenden Kleinbürgertum stammten. Ihre Vorstellung von Leben und familärerm Alltag setzten sie in der Planung von neuen Grundrissen, Ideen über Stadtteilgestaltung, kurz beim Gut Wohnen allgemein um. Hierbei orientierten sie sich - ihrer Schicht entsprechend - an den Normen des Bürgertums. Sie wollten sich und ihre Schicht vom Proletariat abgrenzen. Aufgrund materieller Not und aufgrund ihres staatlichen Auftrages, für "Minderbemittelte" Wohnraum zu erstellen, sahen sie sich jedoch gezwungen, einige Aspekte einer eher proletarischen Lebensweise in ihren Planungen mit aufzunehmen.

Nach diesem kleinen Exkurs können wir nun wieder zum heutigen Geburtstagskind zurückkehren. Denn an seiner Lebensgeschichte lassen sich die Ergebnisse und der weitere Verlauf dieses Prozesses sehr schön exemplarisch belegen. In den 20er Jahren - noch in den Kinderschuhen - verwirklichte die Wohnungsgesellschaft Münsterland mit der Gartenvorstadt "Habichtshöhe" ihr erstes größeres Siedlungsprojekt in Münster. "Eigenheim und Garten in der Gartenvorstadt Münster Habichtshöhe" sollten laut einer Werbebroschüre "für die Kinder das sonnige Vaterhaus, für den Hausherrn die rechte Feierabendstätte, für die Hausfrau der friedliche Wirkungskreis, der ganzen Familie die gesicherte Heimstätte" sein. Weiter heißt es: "Nicht 'Palastfenster und Flügeltür', nicht Marmorvestibül und herrschaftliche Aufmachung sind das Wesentliche, sondern eigene Haustür, reichlich Nebengelaß, Weg ins Freie! Aufgetakelte Raffke-Villen und protzige Fassaden sind in Habichtshöhe nicht zu haben. Einfach und sachlich stehen die Häuser da, der ernsten Zeit, ehrliche Kinder, aber wohlüberlegt in Umriß und Maß, behaglich und frisch in Form und Farbe. Noch mehr im Innern als im Äußern wollen die Eigenheime gefällig sein, gefällig nicht den Straßengaffern, sondern den Drinwohnenden."

Die Wohnfläche des Einfamilienhaustyps Lüdenscheid, im Zentrum der Siedlung am Grünen Grund gebaut, betrug 91 qm - für die 20er Jahre selbst für kinderreiche Familien eine großzügige Gestaltung. Zentraler Bestandteil der Wohnungen war immer die Wohnküche, die man in damaliger Sichtweise eher unteren Bevölkerungsschichten, also kleinen Angestellten oder aufstrebenden Arbeiterfamilien zuordnete. Jedoch konnte sich diese Klientel ein Eigenheim in der Gartenvorstadt Habichtshöhe meist nicht leisten, so daß die Wohnungsgesellschaft Münsterland die Häuser vermieten mußte, wobei die Mieten durchaus nicht für alle erschwinglich waren.
Aus heutiger Sicht schätzt man sich glücklich über diese Entwicklung. Nur dank der Tatsache, daß die Häuser in der Gartenvorstadt Habichtshöhe bis heute fast ausschließlich in der Hand der Wohnungsgesellschaft Münsterland sind, konnte ihre einheitliche Erscheinungsweise als modellhafte Siedlung erhalten bleiben.
In den 30er Jahren änderten sich mit dem Nationalsozialismus die staatlichen Vorgaben für den Sozialen Wohnungsbau und die Familienpolitik. Nun mußte die Wohnungsgesellschaft Münsterland bei ihren Planungen von anderen Voraussetzungen ausgehen, als sie es noch in den 20er Jahren bei der Gartenvorstadt Habichtshöhe tun konnte. Jetzt sollten nur noch sogenannte "arische" Familien in den Genuß staatlich geförderten Wohnraumes kommen. Die herrschende Ideologie besagte, daß das Wohl des Einzelnen immer hinter dem Volkswohl zurückzutreten hätte. Verursacht durch die aggressive Außenpolitik reduzierte man die Mittel für soziale Belange wesentlich. Eher schlicht sollte die Bauweise sein und die Verbundenheit mit "Heim und Scholle" wurde besonders hervorgehoben: 'Die deutsche Familie und die deutsche Rasse muß mit dem deutschem Boden verbunden werden', hieß es. Jedem Haus sollte möglichst ein Stallanbau für Kleintierhaltung und ein kleiner Garten zur Verfügung stehen. Bei kalkulierter knapper öffentlicher Versorgung sollten sich möglichst viele weitgehend selbst ernähren können - ein wohnungspolitischer Beitrag zur nationalen Kriegsvorbereitung.
Die von der Wohnungsgesellschaft Münsterland in den 30er Jahren umgesetzten Grundrisse spiegeln diese Veränderungen: In Münster und im Münsterland baute sie sogenannte Volkswohnungen. Zentraler Wohnbereich war, bei einer kleineren Wohnfläche, mehr denn je die Wohnküche. Die Wohnfläche für eine kinderreiche Familie, also ein Ehepaar mit mindestens drei Kindern, durfte 42 qm nicht überschreiten. Den hier wohnenden Familien stand also weniger als die Hälfte des in den 20er Jahren vorgesehenen Raumes zur Verfügung.
Hier - wie andernorts - zeigen sich qualitative Unterschiede zu den in der Weimarer Republik vertretenen Wohnstandards.
In Kriegs- und Nachkriegszeit wurde für viele Familien der bei diesen Wohnungen vorgesehene Garten überlebensnotwendig. Bombardierungen auf deutschem Boden verschärften die Not der Bevölkerung. Viele Mütter mußten - ohne einen Vater an der Seite - alleine für die Ernährung ihrer Kinder sorgen; auf Dauer waren diese mit dem auf Lebensmittelmarken zu kaufenden, nicht zu sättigen. Das Stichwort der "familialen Selbsthilfe" kann die Kriegs- und Nachkriegszeit sinnvoll charakterisieren.
Auch die Westfälische Heimstätte geriet im Verlauf des Krieges immer mehr in Bedrängnis. Während des Zweiten Weltkrieges erhielt der Soziale Wohnungsbau keine Mittel mehr. Knappe öffentliche Kassen führten zur ausschließlichen Förderung kriegswichtiger Bereiche.
Wie viele private Familien griff die Westfälische Heimstätte in dieser Situation auf das Prinzip der familialen Selbsthilfe zurück. Sie suchte sich nahe Verwandte, in diesem Fall die Kommunen, die ihre Arbeit unterstützen konnten. Alleine wäre sie und damit das heutige Geburtstagskind kaum überlebensfähig gewesen. Im Jahre 1942 gewann man die Städte Münster und Bocholt als Gesellschafter der Wohnungsgesellschaft Münsterland. Diese nahmen - um im Bild zu bleiben - die nicht unwichtige Rolle von 'guten Tanten' ein. Bei zentralen Entscheidungsfragen wurde ihre Meinung, ihr Rat eingeholt, und natürlich war ihre materielle Hilfe in Form von Baustoffen und Bauland gerne gesehen, letztlich wußte aber die Mutter eigentlich ziemlich genau, was für ihre Tochter gut sei.
Doch nun zurück zum Ideal der bürgerlichen Familie, für das es in Kriegs- und Nachkriegszeit zunächst nicht so gut aussah. Zerstörter Wohnraum führte dazu, daß die Menschen sehr eng aufeinander gedrängt lebten. Viele Teile des sonst privaten Lebens fanden in der Öffentlichkeit statt, das gilt im besonderen für die Hausarbeit. Männer waren im Krieg gefallen oder wurden über Jahre in Kriegsgefangenschaft gehalten. Lohnarbeit konnte zunächst das Überleben einer Familie nicht sichern, schließlich gab es für das verdiente Geld noch herzlich wenig zu kaufen. So wurden öffentliche Grünanlagen zu Gemüsebeeten, man traf sich für Stunden in der Schlange beim Lebensmittelkauf oder bei Hamsterfahrten in überfüllten Zügen und mehrere Familien mußten gemeinsam eine Küche benutzen.

Mit wachsendem Wohlstand besserten sich in den 50er und 60er Jahren die allgemeine soziale Lage und die Wohnverhältnisse wesentlich. Dank des Aufschwungs des Sozialen Wohnungsbaus sahen sich immer mehr Menschen in der Lage, sich endlich wieder hinter der eigenen Wohnungstür zurückziehen zu können. Mütter, die in den Jahren vorher alleine ihren Mann stehen mußten, waren froh, wenn sie die Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Kinder wieder mit einem Partner teilen konnten.

Staatliche Politik dieser Zeit förderte vorrangig Familien mit erwerbstätigem Vater und einer Mutter als Hausfrau und mindestens zwei Kindern, ganz dem Ideal der bürgerlichen Familie entsprechend. Das II. Wohnbau- und Familienheimgesetz aus dem Jahre 1956 räumte der Erstellung von Eigenheimen für diese Familien Priorität ein. Die auf allen Ebenen propagierte Familienform sollte in der Wohlstandsgesellschaft nicht mehr nur für bestimmte Schichten gelten; vielmehr sollte sie in der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" eine allgemeine Norm darstellen. Diese Tendenz tritt auch im neuen Sprachgebrauch zutage: Fortan baute man nicht mehr für "minderbemittelte Familien", sondern für die "breiten Schichten der Bevölkerung".

Und endlich, so scheint es, konnten die Planer ihre, dem Leitbild dieser Familienform entsprechenden Grundrisse durchsetzen. Ende der 50er Jahre faßt einer von ihnen die Entwicklung zusammen: "Die Wohnküche, die Jahrzehnte hindurch nicht zu vermeiden war, ist in wenigen Jahren durch die Kochküche - vielfach mit Einbaumöbeln - und einen ihr zugeordneten wirklichen Wohnraum verdrängt worden." Wer hört da nicht den Seufzer der Erleichterung, diesen, wie ich vorhin ausführte, eher proletarischen Aspekt des Gutes Wohnen endlich los zu sein.
Auch die Wohnungsgesellschaft Münsterland orientierte sich mit der Grundrißgestaltung ihrer Wohnungen an diesen Vorgaben; die durchschnittliche Größe einer "Funktionsküche" beträgt hier ca. 6 qm. Diese Beschränkung der Küchengröße zeigt, daß die Hausarbeit an öffentlicher Wertschätzung verloren hatte. An die Stelle der Eigenproduktion im Haushalt sollte jetzt eine Konsumorientierung der Haushalte treten. Kurz: Die bürgerliche Kleinfamilie hatte sich endgültig etabliert und sogar die Westfälische Heimstätte sollte sich in den 50er Jahren in ihrer konzernpolitischen Familienkonstellation dieser Norm nähern.

Für die Betreuung ihrer drei Töchter schien ihr die Landesversicherungsanstalt Westfalen, die ihr einen entsprechenden Antrag machte, ein geeigneter Partner. Diese konnte auf einen bereits auf das 19. Jahrhundert zurückgehenden reichhaltigen Erfahrungsschatz im Sozialen Wohnungsbau verweisen. Seit 1957 teilen sich die Westfälische Heimstätte bzw. ihre Nachfolgeorganisation, die Landesentwicklungsgesellschaft NRW, und die LVA auf partnerschaftlicher und weitgehend gleichberechtigter Basis die Verantwortung für die Weiterentwicklung ihrer Töchter. Im Aufsichtsrat des Geburtstagskindes, sozusagen am Familientisch, sitzen auch immer noch seine beiden 'Tanten', die Städte Münster und Bocholt. Die Familienkonferenzen sind, seitdem sich nach Beteiligung der LVA zwei materiell gleichstarke Partner gegenübersitzen, wesentlich lebendiger. Zwar geht es - wie in allen Familien - manchmal hoch her, doch münden die Differenzen fast immer in einem produktiven Ergebnis. Bei der Lektüre der Protokolle fällt auf, wie wohltuend es für die Entwicklung von Töchtern sein kann, wenn nicht alles schon im Vorfeld durch eine Art übermächtige Mutter entschieden ist.

Trotz des häufigen Hinweises in den Tageszeitungen auf steigende Scheidungsraten in unserer Gesellschaft hat diese Lebensgemeinschaft noch Bestand und wir sind gespannt, wie sie sich weiter entwickeln wird. Denn inzwischen, also in den 90er Jahren, kann die bürgerliche Kleinfamilie auf privater Ebene nicht mehr ungeteilt als das A und O allgemeiner Familiennormen gelten - aktuell unterliegt sie erneut einem historischen Wandel: Die Zahl Alleinerziehender steigt, Single-Haushalte folgen konsequent der gesellschaftlichen Tendenz der Individualisierung, die gestiegene Lebenserwartung führt zu erhöhtem Bedarf an Wohnungen für ältere Menschen, und Jugendliche wollen oder können häufig nicht bei ihren Eltern wohnen.

Auch die bis in 70er Jahre geltende soziologische Kennzeichnung unserer Gesellschaft als "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" hat ihre Gültigkeit verloren. Inzwischen scheint das Schlagwort der Zwei-Drittel-Gesellschaft die soziale Struktur besser zu kennzeichnen. Das Gut Wohnen wird angesichts der Tendenz steigender Arbeitslosenzahlen und vermehrter Einrichtung von Heimarbeitsplätzen erneut eine Bedeutungssteigerung erfahren. Den Institutionen des Sozialen Wohnungsbaues kommt in diesem Rahmen eine wichtige Rolle zu. Sie werden nicht umhin kommen, ihre historische Fixierung auf die Mittelschicht neu zu reflektieren. Den nachweisbaren Defiziten der historischen Denkungsart, alle Menschen wollten so leben wie die Verantwortlichen der Wohnungswirtschaft, kann und muß durch neue nutzerorientierte Konzepte entgegengewirkt werden.

Ich wünsche dem heutigen Geburtstagskind ein erfolgreiches und langes Leben für die Beschreitung dieses Weges und danke für Ihre Aufmerksamkeit!


Münster, 20. Februar 1997
Magdalene Heuvelmann



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